Ethan Ribeiro (Prinz), Micaela Romano Serrano (Aschenbrödel) © Marie-Laure Briane
Performance

Mit Standing Ovations gefeiert: Ein facettenreicher Strauss voller Ideen

Schreiners Uraufführung „Aschenbrödel“ zum 200. Geburtstag des Walzerkönigs begeistert alle Generationen. Am Donnerstag feierte das ausverkaufte Gärtnerplatztheater Premiere.

von Sabine Kippenberg

Erst in seinem letzten Lebensjahr konnte sich Johann Strauss Sohn dazu durchringen, ein Ballett zu komponieren – sein einziges, „Aschenbrödel“, basierend auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm. Obwohl Strauss das Werk 1899 unvollendet hinterließ und der ursprüngliche Nachlass als verschollen gilt, gelang es dem Komponisten Josef Bayer, aus den Fragmenten eine Bühnenfassung zu erstellen. Uraufgeführt wurde das Ballett am 2. Mai 1901 am Königlichen Opernhaus in Berlin; die Wiener Erstaufführung folgte am 4. Oktober 1908 an der Hofoper. Schon damals wurde die Handlung in die jeweilige Gegenwart verlegt – ein Ansatz, den auch die neue Produktion am Gärtnerplatz aufgreift. Doch was bedeutet „Gegenwart“?

Karl Alfred Schreiners choreografische Interpretation löst sich von traditionellen Rollenmustern, ohne die klassische Erzählstruktur preiszugeben. Zu sehr ist Schreiner von seiner Wiener Zeit geprägt – und diese Prägung wird zum bereichernden Resonanzraum seiner Version. 1999 tanzte er etwa in Renato Zarellas „Aschenbrödel“ nach Johann Strauss den Winter.

Nicht zeitgemäß erscheint Schreiner vor allem die Reduktion der Partnerwahl auf äußere Schönheit. So verzichtet er bewusst darauf, die berühmte Schuhanprobe bei jeder Tänzerin des Ensembles durchzuspielen, nimmt jedoch auf ironische Weise Bezug darauf.

„Du bist ja voll Staub und Schmutz, du hast keine Kleider und Schuhe und willst tanzen?“ – diese klischeehafte Ohrfeige ihrer Stiefmutter muss Aschenbrödel (Micaela Romano Serrano) über sich ergehen lassen. Wären da nicht ihre Gefährten, Schreiners wunderbar gezeichnete Waschbären, die das Mädchen in perfekter Manier einkleiden würden. Zu dritt werfen sie Nadel und Faden an, um im Nu jenes rosafarbene Ballkleid zu schneidern, zu dem die heitere „Neue Pizzicato-Polka op. 449“ erklingt.

Die drei drolligen Tiere (Hyo Shimizu, David Valencia, Nicoló Zanotti) in ihren flauschigen Kostümen – deren Bürsten an Autowaschanlagen erinnern – überzeugen schauspielerisch wie akrobatisch: Räder schlagend, virtuos, pointiert und ungemein witzig. Ein zufällig ertönendes Handyklingeln aus dem Publikum stört diese Szene kaum. Vielleicht hatten die Waschbären in ihrer überschäumenden Laune schon am Champagner genippt? Jedenfalls stehen sie den Kölner Heinzelmännchen in nichts nach, wenn sie ihr Meisterstück präsentieren: das Kleid – und ihre Tanzeinlage. Aschenbrödel (Micaela Romano Serrano) sorgt darin mit ihrem herrlichen Kleid für Furore; passend dazu ihre Schuhe, von denen einer verloren geht.

Die sprichwörtliche rosarote Brille braucht es nicht: Dieser rosa (Turn-)Schuh wird zur Metapher für Glück – für jene Fantasiewelt voller magischer Wesen, in der sich Prinz und Aschenbrödel auf intellektueller Ebene begegnen.

Diese Tierwelt steckt voller Überraschungen. Sie sind „fleischgewordene Fantasie, also Personen, die mit uns eine Welt teilen, in der andere Gesetze gelten. Wenn dem Teddy meiner Tochter kalt ist, muss ich nochmals ins Haus, um einen Pulli zu holen“, verrät Schreiner. Diese „fleischgewordene Fantasie“ steht im Kontrast zur Lebenswirklichkeit der Protagonisten. Sowohl der Prinz (Ethan Ribeiro) als auch Aschenbrödel (Micaela Romano Serrano) geraten in ihrer Realität an Grenzen:

Der Prinz, vom ehrgeizigen Vater (Joel Distefano) in permanentem Pflichtbewusstsein gedrillt, um eines Tages die Geschicke des Landes übernehmen zu können, wird vom Hauslehrer (Gjergij Meshaj) nur halbherzig unterrichtet – mit entsprechend mäßigem Erfolg. So flüchtet sich der junge Königsspross in eine Parallelwelt. Prinz und Lehrer geben sich der „Leichtigkeit des Seins“ hin, die sie mit Wendigkeit, Verspieltheit, rascher Wandlungsfähigkeit und feinem Slapstick füllen. Ein verdienter Applaus für Ethan Ribeiro und Gjergij Meshaj: Ihre dynamische Bewegungssprache springt buchstäblich über Tisch und Bänke.

Auch Aschenbrödel hadert mit ihrer Realität und entzieht sich ihr durch Fantasie. Sie tritt selbstbewusst auf, mit immenser Ausstrahlung und einer fließenden, zeitgenössischen Bewegungssprache – ganz im Sinne der Botschaft des Abends, sich von Rollenklischees zu befreien.

Ganz im Gegensatz zu dem zerbrechlichen, demütigen, elfenhaften Aschenbrödel bei den Gebrüdern Grimm verkörpert Micaela Romano Serrano hier eher eine Persönlichkeit, die für ihre eigenen Ideale lebt und sich mit den fast schon fabelhaften Tieren ihrer Wunschtraumwelt zimmert. Dementsprechend erinnert sie eher mit ihrer kraftvollen und intensiven Tanzsprache an eine Ausdruckstänzerin der 1920er Jahre, wie Martha Graham. Dass Michaela Romano Serrano interpretatorisch nicht am Beginn des 20. Jahrhunderts im ausdruckstechnischen Kinderschuh stehenbleibt, zeigt sie durch ihre Kreativität in der erwähnten skurrilen (Turn)Schuhszene.

Ungewöhnlich, doch in Schreiners friedvoller Gesamtdeutung stimmig, ist das versöhnliche Ende: Die zickigen Stiefschwestern (Montana Dalton, Chia-Fen Yeh) und die strenge Stiefmutter (Yunju Lee) heißen Aschenbrödel und den Prinzen in der Königsfamilie willkommen.

So sehr man Yunju Lee bis zu diesem Zeitpunkt der Versöhnung nicht einmal im Dunkeln begegnen möchte wegen ihrer Strenge und abweisenden Haltung, so geschmeidig und zugewandt präsentiert sie sich am Schluss der Choreografie. Es ist bemerkenswert, wie exakt, unterkühlt mit hohen Beinen und anspruchsvollen hohen Sprüngen sie die Aufmerksamkeit auf sich zieht, um im nächsten Moment ihre Herzenswärme mit einer ebenso beachtlichen Präzision an den Tag legt.

Auch den beiden Stiefschwestern (Montana Dalton, Chia-Fen Yeh) gebührt Respekt, die in ihrer Garstigkeit, Synchronität und durch ihr aufbrausendes Temperament das Publikum in den Bann ziehen. Hervorzuheben wäre außerdem der König (Joel Distefano), der sich immer noch am überkommenen Frauenbild festklammert, hier symbolisiert durch den gelben Aschenputtel-Pumps, mit dem der König fast schon hilflos wirkend durch die fesche Ballgesellschaft rennt. Diese Idee, eines alternden Unbelehrbaren umzusetzen und dabei die Tanztechnik einfach werden zu lassen, ist eine Kunst. Einen temperamentvollen Csárdas aufs Parkett zu legen, wie es die Gärtnerplatz-Compagnie getan hat, ist ebenfalls beachtlich. Wie sehr Schreiner ‚seiner‘ Compagnie verbunden ist, zeigt nicht nur ein Blick ins Programmheft („…in Zusammenarbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern…), sondern macht auch das folgende Phänomen deutlich:

Schreiner setzt mit seinem hochkarätigen, dynamisch kraftvollen und experimentierfreudigen Ensemble ein weiteres Zeichen: Der Mensch kann nur existieren, wenn er im Einklang mit der Natur lebt – eine Aussage, die sich im Bühnenbild spiegelt.

Ethan Ribeiro (Prinz), Micaela Romano Serrano (Aschenbrödel)
© Marie-Laure Briane

Wie „angegossen“ der Schuh passt – welcher auch immer – zeigt auch das perfekte Zusammenspiel zwischen Orchester (Eduardo Browne) und Ballett. Stehende Ovationen sind der verdiente Lohn. Ein größeres Geburtstagsgeschenk zum 200. Geburtstag des Walzerkönigs hätte sich das Ensemble des Gärtnerplatztheaters kaum machen können. In diesem Sinne: „Alles Walzer!“