„Nussknacker“-Versionen in Karlsruhe und Mannheim
von Angela Reinhardt
Ist der zweite Akt nur ein Traum oder nimmt man das Märchen ernst? Das ist die Frage, vor der jede/r Choreograf/in angesichts einer Neufassung des guten alten „Nussknackers“ steht. Bridget Breiner entscheidet sich beim Badischen Staatsballett für einen Traum, und zwar einen bunten Mädchen-Weihnachtswundertraum im Himmel, voll lieber Gäste und Fantasiefiguren, voll Freude, Reichtum, einer Festtafel, Schneeflocken und schönen Kleidern. Die Karlsruher Ballettchefin und designierte Direktorin des Balletts am Rhein entfernt sich gar nicht weit von der ursprünglichen Handlung, die Marius Petipa einst nach E.T.A. Hoffmann verfasst hatte. Aber Breiner gibt den bekannten Figuren eine persönliche Geschichte mit, anfangs deprimierend, dann traumselig und am Ende sehr bewegend. Ihr gelingt mit „Das Mädchen und der Nussknacker“ das selten gewordene Kunststück, psychologische Tiefe mit choreografischer Virtuosität zu vereinen – so viele hohe, ja spektakuläre Hebungen, so viele Pirouetten und gewagte Sprünge haben wir im modernen deutschen Ballett schon lange nicht mehr gesehen. Breiner behält keinen einzigen Schritt der tradierten „Nussknacker“-Versionen und setzt doch die Technik ihrer formidablen Tänzer mit jedem Auftritt erneut in Szene.
Ihr Kniff: Familie Stahlbaum wird gleich zu Anfang bettelarm. Clara Marie, wie die zentrale Figur des Balletts hier mit einer raffinierten Verbindung der beiden überlieferten Rollennamen heißt, verliert aufgrund der Weltwirtschaftskrise vor einhundert Jahren in der ersten, noch etwas drögen und bewegungsarmen Viertelstunde das Mobiliar ihres großzügigen Zuhause, die Freude eines üppigen Weihnachtsfestes, ja sogar viele ihrer Spielsachen. Der Vater trinkt, die Mutter wird depressiv, die Hausangestellten verlassen die Familie. Einzig den hölzernen Nussknacker von Pate Drosselmeier hält sie noch im Arm, als sie ermattet einschläft. Sara Zinna porträtiert eine tapfere, eigentlich ganz selbstbewusste Heranwachsende, die dennoch unter so viel Kummer fast zerbricht. Die Mäuse, die dann erscheinen, sind ziemlich gruselig, weil halb skelettiert, der Auktionator wird im Traum zum Mausekönig, dann staksen Zinnsoldatinnen auf Spitze herein, ein tolles Bild. Alsbald fliegen in Jürgen Franz Kirners aufwendiger Ausstattung die Wände des Hauses davon, ein bühnenhoher, schneebedeckter Tannenbaum stürzt herunter, und der Nussknacker nimmt Menschengestalt an: Der nette Nachbarsjunge, in den das Mädchen sich verliebt hatte, wird zum liebevollen, edlen Prinzen. Über eine Himmelsleiter gelangt das Paar hinauf in die Wolken, wo die Schneeflocken unter Leitung der hochvirtuosen Waldgöttin (Sophie Martin) wirbeln; als Besonderheit sorgen „Die vier Winde“, die männlichen, ebenso glitzernden Gegenstücke zu den Schneeflocken, für Diversity im Märchenhimmel.
Dort oben zwischen riesigen Wolkenbergen trifft Clara Marie, dramaturgisch und traumpsychologisch bestens begründet, all ihre Freunde und Spielsachen von früher wieder. Sie sehen verwandelt und ein wenig unorthodox aus, viele tragen Engelsflügelchen. Am schönsten ist freilich der kleine blaue Pegasus, der sich von einem Figürchen auf dem Fensterbrett zu einem großen, stolzen, von den „vier Winden“ verkörperten Fantasiewesen verändert, auf dem Clara Marie sogar fliegen kann. Die Nationaltänze werden von der Köchin, von Baseballspielern (wir sind im krisengeschüttelten Amerika der 1920er) oder von Maries Spielsachen wie einem Wolf und einer putzigen Schäferin absolviert: keine Spur von Tee, Kaffee, arabischen Schleiern oder Yellowfacing. Statt der üblichen Kinderschar von der Ballettschule wurde die staunenswerte, fröhliche Elite-Turnklasse des Karlsruher Otto-Hahn-Gymnasiums eingebaut, wo man neben Überschlägen offensichtlich auch Fouettés lernt.
Immer wieder wirbeln Drosselmeier und der fesche Nussknackerprinz durchs Geschehen – Ledian Soto, Daniel Rittoles und ebenso Lucas Erni als Vater des Mädchens sind großartige Partner, die ihre Ballerinen hoch durch die Lüfte werfen, in Schultersitze oder Überkopfhebungen, der Choreografin fallen die unterschiedlichsten Versionen ein. Springen und drehen können sie ebenfalls, der Abend ist aber nicht nur ein Fest für Fans spektakulärer Balletttechnik, sondern er ist auch richtig gut erzählt. Denn Breiner zeigt durchweg die Beziehungen zwischen den Figuren: Clara Marie und ihr Nussknacker werfen sich lange, verzauberte Blicke zu, später versteht das Mädchen auch endlich das Leid der bitteren, deprimierten Mutter (Lucia Solari). Im Traum finden ihre Eltern zum schönen Adagio des Grand Pas de deux nachdenklich und langsam wieder zusammen.
Breiner wie auch ihr Ausstatter Kirner nutzen die Größe der Karlsruher Bühne weidlich aus, mit weiten, schwungvollen Linien, großformatigen und fantasievollen Bildern. Neben einer steten Steigerung der Überraschungen bis zum Schluss hin zeigt die Produktion auch viele liebenswerte Details, etwa die burschikose Uniformhose, die Clara Marie vom Nussknacker klaut und in der sie den größten Teil des zweiten Aktes durchtanzt, bevor sie mit einem wunderschönen Ballkleid ihr Erwachsen- und Frauwerden akzeptiert. Zum Blumenwalzer erscheinen die Damen in weiten, wippenden Tutus, die Herren in weißen Fräcken, die Ausstattung ist luxuriös und voll kindlicher, um nicht zu sagen Disney-Fantasie. Als wären die vielen schönen Pas de deux nicht genug, kann Breiner auch noch Gruppentänze arrangieren, wirbelt Balanchine-artige Vierergruppen locker ineinander und verteilt sie über die weite Bühne. Kurz, aber intensiv tanzen all die Traumgestalten durchs Finale, das Walter E. Gugerbauer wie den ganzen Rest des Abends mit sattem, farbenfrohen Orchesterklang dirigiert. Dann weckt Drosselmeier das schlafende Mädchen und ihre kleine Familie findet im leeren Haus das Weihnachtsglück auch ohne tolle Geschenke, einfach in einer engen Umarmung. Es mag ein großer Vergleich sein, aber nicht nur die gewagten Hebungen, auch die große Menschlichkeit der Erzählung enthält durchaus Spuren von John Cranko.
Weit weniger märchenhaft, vielmehr parodistisch wirkt dagegen der „Nüsseknacker“ von Stephan Thoss und Romy Liebig, der bereits im letzten Dezember beim Tanzensemble des Mannheimer Nationaltheaters Premiere hatte. Marie ist hier definitiv noch ein Kind, rotzfrech und aufsässig in ihrem Trotz über die falschen Weihnachtsgeschenke. Thoss zeigt viel über heutige Kinder, mischt in die pausenlosen 80 Minuten auch noch das Märchen von Prinzessin Pirlipat aus E.T.A. Hoffmanns Originalgeschichte sowie mehrere Zitate aus Loriot-Sketchen hinein, etwa das alberne Ehepaar aus dem Hotelflur aus „Ödipussi“. Auch hier sind Wände, Möbel und der Weihnachtsbaum ständig in Bewegung, die Kostüme scheinen mit ihrem Plastikflitter direkt von Lametta und einem billigem Kaufhausweihnachten inspiriert. Von anderen Versionen des Klassikers unterscheidet sich diese durchweg in Tanzsocken und einem elastisch-modernen Idiom absolvierte Fassung auch dadurch, dass Thoss nach ein paar Nummern aus der „Nussknacker“-Partitur und einem Symphonischen Gedicht von Henri Duparc komplett auf „Dornröschen“ umsteigt und den größten Teil des Abends mit Feenvariationen und Carabosse-Musik bestreitet. Das unterstellt dem großen Peter Tschaikowsky eine gewisse Austauschbarkeit. Marie, die Göre, wird dadurch erwachsen, dass sie und ihr Pate den Märchenfiguren Pirlipat und Nussknacker helfen – sehr märchenhaft aber wird einem an diesem grellen Abend nicht zumute.