Die Premiere wurde in alle Welt gestreamt: Martin Schläpfers Märchenballett an der Wiener Staatsoper
Fotos © Ashley Taylor
Es gibt wunderschöne Szenen in Martin Schläpfers neuem Wiener „Dornröschen“: Wenn die Fliederfee und Carabosse, das gute und das böse Prinzip, sanft zweifelnd umeinander herumgleiten und die Magie einer Versöhnung im Raum steht, wenn schon früh die Sinnlosigkeit ihres Kampfes deutlich wird. Wenn eine Waldschratin mit Geige und der Anmutung des asiatischen Ewigkeitstheaters dem Prinzen den richtigen Weg weist, wenn dieser nicht nur äußerlich suchende Désiré sich flach auf den Waldboden schmiegt und die Verbindung mit der Erde sucht. Wenn nach vielen künstlichen Farben endlich ein sanftes Waldgrün das Bild beherrscht, wenn der Prinz der schlafenden Schönen sanft einen Kuss auf den Mund tupft und sie zu schwebenden, schmerzenden Streicherklängen von Giacinto Scelsi erwacht, die fast unmerklich in Peter Tschaikowskys Violinsolo übergehen, in das Entr‘acte, das in der Originalfassung den Weg ins Dornenschloss weist. Wenn das Paar sich dann Stirn an Stirn lächelnd kennenlernt, wenn Dornröschen auf des Prinzen Nacken liegt und schwebt, oder wenn Carabosse, nachdem ihr böser Zauber durch den Kuss zunichte gemacht wurde, mit den Pantomime-Gesten für „tot“ und „weinen“ spielt wie mit Zitaten aus einer vergehenden Welt.
Martin Schläpfer macht es im Grunde kein bisschen anders als Nacho Duato 2015 in Berlin und zuvor beim Mikhailovsky-Ballett: Er choreografiert fast alles neu. Einzig das Rosenadagio, der Pas de deux des Blauen Vogels und der Grand Pas de deux des Hochzeitspaares bleiben in ihrer originalen, tradierten Version. Der Rest ist anders, aber doch viel zu nah am Original, denn Schläpfer löst die Figuren kaum von der Musik, die ihnen im Libretto zugeschrieben wurde. Und so blitzt durch die Variationen der Feen im Prolog, durch die Sprünge der Feenbegleiter immer noch die alte Tradition. Die Fee Violante etwa reckt ebenfalls ihre Zeigefinger, nur eben in andere Richtungen. Das ändert sich zunehmend, in den Divertissements des dritten Akts etwa löst sich Schläpfer komplett von der Vorlage, auch beim völlig humorfreien Duo für Kater und Kätzchen. Er kann klassisch, keine Frage, er kann Gruppen arrangieren, aber es sind keine großen Architekturen, wie er sie zum Beispiel in Mainz oder Düsseldorf für manche Symphonien schon entworfen hat. „Dornröschen“, diese „Enzyklopädie des klassischen Balletts“, wird hier in einer neoklassischen Sprache durch Irritationen wie geflexte Füße, nach innen gedrehte Knie oder vorgerückte Hüften geerdet, der Choreograf setzt vor allem bei den Frauen breitbeiniges Auf-dem-Boden-Stehen gegen ziselierte Spitzenkunst. Aber immer nur in verträglicher Dosis, niemals mit der Konsequenz eines Mats Ek, der „Dornröschen“ komplett zerlegt hat. Und leider auch nie mit dem dramaturgischen Geschick einer Marcia Haydée, die ihr Märchen von Gute und Böse konsequent durcherzählt. Liegt es an der Märchen-Materie, dass typische Schläpfer-Bewegungen, die man vorher liebte, hier fast manieriert wirken?
Catherine Voeffrays Kostüme sehen manchmal aus, als hätte jemand ein Stück Stoff an einen Körper hingeworfen und das behalten, was kleben blieb. Fee Canari/die Singvogel-Fee wirkt wie eine Revuetänzerin und Violante scheint direkt vom Strand zu kommen, überhaupt verleiht die viele nackte Haut dem Geschehen einen sportiven Outdoor-Charakter. Die wenigsten Ballerinen tragen Strumpfhosen, auch Dornröschen nicht, bei den Herren dominieren kurze Hosen, die über kniehohen weißen Stiefeln dann doch arg tuckig aussehen. Weiße Schläppchen unter dunklen Anzughosen wirken wie Freizeitsneaker – eigentlich würde man diese unsympathischen Leute auf Partys meiden. Florian Etti hat riesige Rosen als Hintergrundprospekt entworfen, die im dritten Akt hinter geometrische Elemente verbannt werden.
In der Titelrolle bezaubert Hyo-Jung Kang, sie tanzt mit leichten Sprüngen und grazilen, feinen Armen, sie strahlt von innen. Mit Brendan Saye hat sie einen nachdenklichen, eher erdenschweren Prinzen zur Seite, der bei der Hochzeit mit korrektem Partnern statt Liebesglück beschäftigt ist. Wo Schläpfer im zweiten Akt radikal gestrichen hat, erklingt im letzten Akt jede einzelne Nummer aus Tschaikowskys Partitur, samt den sonst gestrichenen Auftritten von Cinderella und dem Däumling und einer nie gehörten Sarabande, in der König und Königin kurz vor dem Finale Abschied nehmen. Es hört und hört nicht auf, obwohl eigentlich nichts passiert – die Waldfrau und ein Faun in Goecke-Hose tanzen zur Musik von Rotkäppchen, den Rest bestreiten mehr oder weniger dekorativ die Feen und diverse Partygäste. Auroras Mutter, die königliche Olga Esina, ist trotz allen Glücks immer noch so melancholisch wie zu Anfang. Sie schließt sich in einer geheimnisvollen Szene mit Carabosse und der Fliederfee (Ioanna Avram) zu einem Trio der stolzen Frauen zusammen, wird aber von ihrem König (Masayu Kimoto) wieder weggezogen. Der flotte, moderne Hofstaat folgt dem jungen Herrscherpaar hinaus, sie lassen die alten Märchenfiguren wie die Feen, Vogel und Kätzchen zurück. König und Königin legen sich nieder, die Waldfrau Yuko Kato schreitet wie eine Seherin von hinten durch die Gruppe und weiß am Ende mehr als wir. Farbenreich und sehr schwungvoll dirigierte Patrick Lange das Orchester der Wiener Staatsoper, die Aufführung ist noch bis Mittwochabend kostenlos im Stream zu sehen.
https://play.wiener-staatsoper.at
Angela Reinhardt