b.36 Ballett am Rhein Düsseldorf Duisburg SCHWANENSEE Ch. Martin Schläpfer. Foto Gert Weigelt
Kritiken

Die Spielzeit 2017/18: ein Rückblick von Hartmut Regitz

So gigantisch ist Deutschland eigentlich nicht. Aber wenn man sich zwischen den Spielzeiten anhand der Theaterprospekte eine Übersicht über die sich vorbereitende Saison verschaffen will, kann man leicht einen anderen Größeneindruck gewinnen. Kaum zu zählen sind die Theater zwischen Aachen (wo die Tanzsparte allerdings schon vor längerer Zeit abgewickelt wurde) und Görlitz, zwischen Flensburg und Friedrichshafen (wo im Graf-Zeppelin-Haus zwischendurch immerhin das Hamburg Ballett gastiert). Und einige davon bieten nicht bloß eine Ballettpremiere an, sondern deren zwei, drei, bisweilen sogar vier.

Also füllt man Seiten um Seiten damit, was einem trotz reicher Erfahrung neu vorkommt, was auf den ersten Blick eigenwillig erscheint, was möglicherweise Tendenzen erkennen lässt. Man notiert sich die Termine, obwohl man weiß, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man noch in einer süddeutschen Zeitung beispielsweise über eine Premiere in Kassel berichten konnte, Zeiten, in denen einen der Rundfunk zu einer Uraufführung des Balletts „Der Rattenfänger von Hameln“ nach Detmold schickte. Und vermerkt auf seiner Liste ein Programm in Cottbus mit dem vielversprechenden Titel „Menschenkinder“, weil nach langer Zeit wieder Birgit Scherzer am Werk ist, die auch noch für das Thüringer Staatsballett einen nagelneuen „Nussknacker“ ankündigt. Man fragt sich, wie eine „Gräfin Cosel“ ausschauen könnte, der Carlos Matos in Dresden-Radebeul Reverenz erweisen will. Weiß, dass Mario Schröder am Leipziger Ballett nicht der erste Choreograf ist, der sich mit Bachs „Johannes-Passion“ beschäftigt. Und konstatiert, dass wieder einmal „Schwanensee“ zu dem Ballett der Spielzeit 2017/18 wird. Neufassungen und Neueinstudierungen gab’s nicht nur in Augsburg, Radebeul, Stuttgart, Leipzig, Düsseldorf. Auch in Basel, London und Zürich stand das Ballett der Ballette zur Diskussion.

Ansonsten versprach die Spielzeit kaum eine Klassiker-Produktion, von ein paar „Dornröschen“-Neufassungen in Saarbrücken, Meiningen und Ulm abgesehen. Das abendfüllende Ballett war dennoch weithin angesagt: „Romeo und Julia“ vor allem, jeweils von Bridget Breiner, Simone Sandroni, Ivan Alboresi oder Luciano Cannito choreografiert, Shakespeares „Sommernachtstraum“ in den unterschiedlichsten Versionen, aber auch eine neue „Kameliendame“ (von Ralf Rossa in Halle), „Die kleine Meerjungfrau“ (von Annett Göhre in Zwickau), „Dürer’s Dog“ (von Goyo Montero in Nürnberg), die „Schöpfung“ (von Jutta Ebnother in Schwerin) oder ganz einfach ein so genannter „Heimatabend“ wie der von Gregor Zöllig am Staatstheater Braunschweig. Dazu unzählige Mischprogramme, die oft unter einem thematischen Titel ein vielschichtiges Erlebnis verheißen.

Niemand kann das alles sehen – nicht einmal die Vertreter der Bundesagentur für Arbeit, die ständig auf Achse sind. Jeder Beobachter muss sich entscheiden. Auch setzen einem die finanziellen Möglichkeiten gewisse Grenzen. Und wenn, wie am 11. November geschehen, gleich fünf Premieren auf denselben Tag fallen, kann sich ein Kritiker nicht klonen: Gibt er dem „Rachmaninow“ von Xin Peng Wang nun den Vorzug vor der „Kameliendame“ von Ralf Rossa, weil man vielleicht mit der von John Neumeier vergleichen könnte? Oder lässt er sich lieber von dem Dreier-Abend „From the Lighthouse“ von Antoine Jully, Lester René Álvarez und Alwin Nikolais locken, von „Dusk“ von Nanine Linning in Heidelberg oder dem Ballett „Der Tod und das Mädchen“ von Stephan Thoss im benachbarten Mannheim?

Was von einer Spielzeit bleibt, was sich dem Gedächtnis möglicherweise sogar als Tendenz einprägt, ist von Mensch zu Mensch verschieden und deshalb nur bedingt repräsentativ. Ich beispielsweise habe schweren Herzens auf Besuche in Düsseldorf und Wuppertal verzichtet und mich stattdessen auf jene Kompanien kapriziert, die vor einem Wechsel stehen. Das ist in erster Linie natürlich das Staatsballett Berlin, das sich vorzeitig von einem Nacho Duato verabschiedet, der keinerlei Spuren im Repertoire hinterlassen wird. Und das, obwohl sich Polina Semionova mit Aplomb aus ihrer Mutterschaft zurückgemeldet hat. Sie verkörperte eine Kitri in der „Don Quixote“-Einstudierung von Victor Ullate, war noch einmal Duatos „Dornröschen“, wurde zuletzt sogar zu seiner „Julia“ – und das alles so sinnlich-schön und mit so stupender Technik, dass man eigentlich nur bedauern kann, sie in diesen Aufführungen nicht mehr erleben zu können. Doch dafür soll es andere Rollen geben, sagen Johannes Öhman und Sasha Waltz, die Schritt um Schritt die Staatsballett-Intendanz übernehmen. Versprochen ist versprochen.

Auch Nanine Linning geht. Mit bildkräftigen, ungewöhnlichen, manchmal sogar haptischen Inszenierungen hat sie sich in Heidelberg nicht nur viele Freunde schaffen können, sondern überhaupt der Tanzsparte einen Boden bereitet, auf dem ihr Nachfolger Iván Pérez aufbauen kann. „Dusk“, ihre letzte Uraufführung, handelt vom Verlust eines geliebten Menschen, und das auf eine schlichte, sehr stille, ganz und gar konzentrierte Bewegungsart, die so ganz anders war als die sonst gewohnte Opulenz. Umso neugieriger darf man auf ihren Beitrag zum Bauhaus-Jubiläum sein, den Tamas Detrich als Intendant des Stuttgarter Balletts für März 2019 bei ihr in Auftrag gab. Er löst Ende dieser Spielzeit Reid Anderson ab, der nach 22 Jahren noch einmal aus dem Vollen schöpfte, die „Lulu“ seines langjährigen Hauschoreografen Christian Spuck wieder ins Programm nahm, ein paar herausfordernde Stück-Kombinationen wagte und ein letztes Mal die Kreativität seiner „Fantastischen Fünf“ erprobte, als da sind: Fabio Adorisio, Katarzyna Kozielska, Roman Novitzky, Louis Stiens und natürlich vor allen anderen Marco Goecke, der auch andernorts das Ballettrepertoire gehörig aufmischte.

Iván Pérez und Tamas Detrich haben künftig im Südwesten das Sagen. Es sind nicht die Einzigen: Neu im „Ländle“ ist Reiner Feistel, der zuletzt in Chemnitz gearbeitet hat und jetzt am Stadttheater Ulm Roberto Scafati beerbt. Nicht ganz so neu wird Bridget Breiner sein, wenn sie 2019 am Badischen Staatsballett Karlsruhe die Nachfolge von Birgit Keil antritt. In Stuttgart kann man sich noch gut an die starke Bühnenpersönlichkeit erinnern, die vor sechs Jahren zur Überraschung aller als Choreografin ans Musiktheater im Revier wechselte – und, Frau muss man eben sein, das Ballett in Gelsenkirchen auf Vordermann brachte.

Tiefgreifende Veränderungen deuten sich an, und das ist gut so. Nur wer die Neugier weckt, wird wahrgenommen. Also greift man nach den Theatervorschauen, auf das eine oder andere Ereignis hoffend, notiert sich erste Termine und gewinnt beim Blättern den Eindruck: Es kann spannend werden 2018/19, selbst wenn man angesichts der Fülle leicht die Übersicht verliert. Noch spannender als in der laufenden Saison, die nun am Ende ist.