Exzellenter Tanz aus Brasilien in Zeiten der Repression
Wie eine Fata Morgana steigt die neue Spielstätte der Movimentos-Festwochen aus dem See auf. Sachlich und funktional ist der langgestreckte Neubau, der in wenigen Monaten errichtet wurde, weil der über 16 Jahre angestammte Aufführungsort, das Kraftwerk des Volkswagen-Konzerns, seiner ursprünglichen Aufgabe zugeführt werden musste. Was bislang nur genutzt wurde und durchaus seinen Reiz hatte, ist ersetzt durch einen Zweckbau eigens als Gastspielhaus für den Tanz. Auch von der Terrasse des Hafen 1 genannten Theaters bietet sich ein atemberaubender Blick: weit bis zur anderen Seite über den See, malerisch angelegte Bauminseln, Schwanenboote, in denen man rudern und sich fühlen kann wie einst Ludwig II. in seiner Lohengrin-Einsamkeit. Selbst ein Pool lädt zum Badebetrieb ein. Drinnen zitiert Hafen 1 das technische Ambiente seines Vorgängers, dunkle Wände, Treppenarchitektur, Metallstreben, unter hängenden Neonröhren sichtbare Leitungen, silbrig ummantelte Rohre. Auch der Saal mit seinen 810 Sitzen, für Kongresse erweiterbar auf 1400 Plätze, erinnert an jenen im Kraftwerk. Die Tribüne ist indes steiler und bietet von bequemen Sesseln aus beste Sicht auf die Bühne.
Movimentos 2019 reduziert sich auf den Tanz als eine der Quellen allen Theaters. Eingeladen wurden fünf internationale Ensembles, mit der São Paulo Dance Company als Eröffnungsakt.
Gegründet wurde sie 2008 von Inês Bogéa, die sie noch heute leitet. War die Company bereits 2013 mit einem Stück von Marco Goecke in Wolfsburg, so hatte sie nun drei sehr unterschiedliche Beiträge im Gepäck. „Tick Cell Play“ nennt Édouard Lock sein Auftragswerk für Movimentos. Es beginnt mit imposanten Bildern. In Lichtkreisen posieren stets mehrere Tänzer, werden vom Dunkel fortgewischt, formieren sich neu. Schon hier wird deutlich, was gemeint sein könnte und was die gesamten 50 Minuten Stückdauer prägt: die Vergänglichkeit allen Lebens und aller Dinge dieser Welt. Inspirieren hierzu ließ sich Lock, so die Fama, vom Brand 2018 im brasilianischen Nationalmuseum Rio de Janeiro, bei dem gut 20 Millionen Exponate von lateinamerikanischer Bedeutung verlorengingen. Eine Katastrophe für die kulturelle Identität eines ganzen Kontinents.

Begleitet wird der Tanz live vom Percorso Ensemble aus Streichern, Klavier, Saxofon. Berückend schön ist die Komposition von Gavin Bryars, wie sie Klassik anklingen lässt: Bizet, Schubert, Puccini meint man auszumachen. Von Harmonie kann auf der Szene jedoch keine Rede sein. In rasendem Tempo und perfektem Kontrast zur Musik wechseln ständig die Lichtkreise, in denen die Tänzer wie angewurzelt fahrig bis hektisch agieren, von Lichtblitzen zusätzlich verunsichert. Marionettenhaft wirken sie, wie zappelnde Exponate in Vitrinen aus Licht, die sich gegen etwas wehren, indes keine Chance zur Befreiung haben. Dies könnte ein Bezug auf den Brand sein. Allgemeiner stellt sich der Eindruck von Angst und Kampf, von Sehnsucht und Wissen um Vergeblichkeit ein. Nichts entwickelt sich im Lauf des endlos scheinenden Stücks, keine neue Aussageebene stellt sich ein – außer dass die bewundernswert erfundenen Bewegungsschnipsel in stets neue Lichtkonzepte verlagert werden. Die, ob in Einzelkreisen, diagonaler oder keilförmiger Anordnung, reißen die Menschen von Ort zu Ort, lassen sie auf der Suche nach Geborgenheit von Lichtplatz zu Lichtplatz hetzen, sich wie Atome einander anlagern. Eine Frau versendet Impulse, die ihre Empfänger zusammenzucken lassen; gegenseitige Tröstung meint man zu erkennen, wenn unter den Füßen das Licht als Zufluchtsort verschwindet. Führungen von Partnern brechen ab, Fassungen zerbersten, ein Gestürzter wird reanimiert. Winzige Aktionen finden parallell statt, was den ermüdenden Zuschauerblick so flackern lässt, wie es der Tanz zelebriert. Ratlosigkeit in einer unbeherrschbar gewordenen Welt wird mit nervösen Bewegungskaskaden und einem Blitzgewitter aus Licht einfach fortgetanzt.

„Tick Cell Play“ hätte das Zeug zu einem choreografischen Meilenstein, hätte Lock, Motor der legendären kanadischen Gruppe La La La Human Step, nicht den Absprung ins Finale verpasst. Uneingeschränkt bravourös meistern die sieben Paare das immense Pensum an ruckenden, zuckenden, flatternden Bewegungen und deren emotionale Zuspitzung. Exzellent trumpfen sie auch in Nacho Duatos „Gnawa“ auf, einer 2005 in Chicago uraufgeführten Reminiszenz an die mystischen Praktiken jener marokkanischen Bruderschaft von Sklaven-Nachfahren und mit Sufi-Verwandtschaft. Zum Klang von Trommeln, Lautenarten, metallenen Klappern vollziehen sich besonders in der pittoresken Hafenstadt Essaouira Rituale zur Vertreibung böser Geister. Der spanische Choreograf lässt die Tänzer einzeln herzutreten und verwickelt sie teils zu arabischem Gesang und unter schattenlosem Licht in ein originelles, artistisch anspruchsvolles Spiel aus Gruppen- und Soloaktionen, als Reihen gefasst oder zu Paaren, dass man dem fast hypnotischen Fluss des Tanzes gern zuschaut. Ein starkes Bild endet die neoklassische, mit 20 Minuten zeitlich perfekt getimte Anverwandlung eines afrikanischen Rituals: Im milden Schein getragener Kunstleuchten verharrt ein Paar in der Hebung.
„Agora“, „Jetzt“, heißt der abschließende, zugleich „brasilianischste“ Beitrag des Abends. Dass er die „Lebenskraft des lateinamerikanischen Soseins“ feiert, ist nicht nur Behauptung, sondern wird sichtbar eingelöst. Der jungen Choreografin Cassi Abranches, Ex-Tänzerin von Grupo Corpo, der anderen wichtigen Compagnie des Fast-Kontinents Brasilien, ist damit ein überzeugender Talentbeweis gelungen, mit einem wunderschönen Duett im Zentrum, das von einer zweiten Frau getrennt wird.
Es stimmt hoffnungsvoll, dass die so sympathische wie potente Truppe laut ihrer Leiterin von den Restriktionen des neuen Präsidenten bislang verschont blieb, wird sie doch vom Bundesstaat São Paulo unterstützt. Andernorts hat die Kulturfeindlichkeit des rechtsextremen Ex-Militärs arge Spuren hinterlassen.
Volkmar Draeger
Bis 25.7., Hafen 1, Wolfsburg, www.movimentos.de