Die Ausdrucksstärke einer Legende – Alla Osipenko und die Kunst des Tanzes. Fotoquelle: Mikhailovsky Theatre Telegram-Kanal
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Die letzte Verbeugung – Alla Osipenko, Ikone des russischen Balletts, ist gegangen

Grazie, Ausdruck, Perfektion – Alla Osipenko bleibt unvergessen

Am 12. Mai starb mit Alla Osipenko eine der letzten Schülerinnen von Agrippina Waganowa. Sie war eine berühmte klassische Ballerina, zeichnete sich aber vor allem durch ihr großes dramatisches Temperament und ihre Neugier auf die Arbeit mit Choreografen aus, dafür wechselte sie auch mehrfach die Kompanie.

Die am 16. Juni 1932 in Leningrad geborene Osipenko wurde 1950 ins damalige Kirov-Ballett aufgenommen, das heutige Mariinsky-Ballett, 1954 wurde sie zur Ersten Solistin ernannt. Neben den Glanzrollen des klassischen Repertoires tanzte sie auch viele der damaligen sowjetischen Ballette, etwa die Phrygia in “Spartacus”, die Herrin des Kupferbergs in “Die steinerne Blume” (1957) oder Mechmene-Banu in “Legende von der Liebe” (1961). Als sie 1961 mit dem Kirov-Ballett auf Tournee in Paris war, lief einer ihrer wichtigsten Tanzpartner, Rudolf Nurejew, an ihrem 29. Geburtstag in den Westen über. Osipenko war kein Mitglied der Kommunistischen Partei und stand unter Verdacht, von Nurejews Plänen gewusst zu haben. In der Folge wurde sie vom KGB beobachtet. Sie galt auch im Privatleben als unabhängige, selbstständige Künstlerin mit scharfer Zunge.

1971 verließ Osipenko das Kirov-Ballett und tanzte bis 1973 in Leonid Jakobsons Leningrader Kompanie “Choreographische Miniaturen”. Danach arbeitete sie in Boris Eifmans Kompanie und wurde zur ersten Startänzerin, die sich für seine Arbeit einsetzte. Sie trat in Uraufführungen vieler zeitgenössischer Choreografen der Sowjetunion auf, so bei Juri Grigorowitsch, Igor Belsky, Igor Chernyshov oder Georgy Alexidze.  Osipenko war in vierter Ehe mit dem Kirov-Solisten John Markovsky verheiratet, der die Kompanie ebenfalls verlassen hatte, um mit Jakobson zu arbeiten. Beide galten auf der Bühne als Traumpaar, die sich perfekt ergänzten.

Nach dem Ende der Sowjetunion unterrichtete Osipenko an großen Ballettkompanien in Italien, Frankreich, den USA, Kanada und Russland. Sie zog in den 1990er Jahren in die USA und arbeitete mit der Hartford Ballet Company in Connecticut. Im Jahr 2000 kehrte sie nach Sankt Petersburg zurück. Sie war auch eine Muse des berühmten russischen Filmregisseurs Alexander Sokurow und wirkte in einer Reihe seiner Filme mit, darunter im preisgekrönten internationalen Erfolgsfilm “Russian Ark”. Bis kurz vor ihrem Tod arbeitete Osipenko als Ballettmeisterin und Coach mit den Solisten des Mikhailovsky-Balletts in Sankt Petersburg.

Russische Ballettgruppe probt im Stadsschouwburg, im Vordergrund die Ballerina Osipenko.
© Jack de Nijs/Niederländischen Nationalarchiv Quelle:

Osipenko war im Juni 1941, genau mit dem Kriegsbeginn Deutschlands gegen die Sowjetunion, in die Waganowa-Schule aufgenommen worden, die bald in den Ural evakuiert wurde. In einem Interview von 2002 sagte sie: “In Polasna an der Kama überlebten wir den ersten Kriegswinter. Wir lernten Ballett in der Kirche. Hunger, Kälte… Dann zogen wir nach Kurja, und dort lernten wir in Baracken, wo es auch sehr kalt war: Wir trugen Fäustlinge an den Händen, mit denen wir uns an der Stange festhielten. Bei strengem Frost mussten wir in unseren Mänteln üben. Wenn man den Kindern erklärt, dass Ballett etwas fürs Leben ist, verstehen das nicht alle. Unsere Liebe zum Ballett, die unter so unglaublichen Bedingungen entstanden ist, kann nur aufrichtig und verzehrend sein.”

Fotoquelle: Mikhailovsky Theatre Telegram-Kanal,