„The Seven Sins“ bei Gauthier Dance in Stuttgart
Das ist ein spannender, aber kein angenehmer Tanzabend. Die ganze Verworfenheit und Sündhaftigkeit der Menschen bringt Gauthier Dance mit der neuen Produktion „The Seven Sins“ auf die Bühne, in einer zweistündigen, pausenlosen Tour de force. Da wird gebrüllt, nach Geld gegiert, im Drogenrausch geschwankt: Mit dem stark tanztheatralischen, bilderreichen Abend stößt die einstens so knuddelige Tanzkompanie im Stuttgarter Theaterhaus in neue, abgründige Welten vor – wieder einmal, muss man bei der erstaunlichen Entwicklung der Truppe sagen.
Fotos: Jeannette Bak
Sieben berühmte Namen hat Eric Gauthier für die sieben Todsünden versammelt, deren Zusammenwirken er im Sinne eines Cadavre Exquis verstanden wissen will, einer jener surrealistischen Zeichnungen auf gefaltetem Papier, bei denen der nächste Künstler ohne Kenntnis des Werkes an den Linien des Vorgängers ansetzt und sich am Ende ein vollständiges, aber zufälliges Bild ergibt. Viele der sieben internationalen und vielbeschäftigten Choreografen, um die sich andere Tanzdirektoren zum Teil jahrelang bemühen, arbeiten sonst mit ihren eigenen Kompanien in großen, abendfüllenden Formen – hier haben sie sich ein Thema und die prägnante Kürze vorgeben lassen, einige überraschen mit ganz untypischen Stücken. Die Todsünden Habgier, Faulheit, Stolz, Völlerei, Wollust, Zorn und Neid sehen wir in dichten, zum Teil heftigen Bildern. Das einzige Bühnenbild ist ein asbestgraues Gewebe, das von hinten durchscheinend beleuchtet werden kann, Kostüme und Lichtregie sorgen für große Bildkraft und einige Effekte. Auch der Tanz, der oft in theatralische Grenzbereiche geht.
Zum Klingeling von Münzen gieren die Menschen bei Sidi Larbi Cherkaoui nach Geld, „Corrupt“ heißt sein Stück über die Habgier. Anfangs noch in den flüssig-gleitenden Bewegungen des Belgiers, später wie mechanische Automaten arbeitet sich die Gruppe immer weiter auf die grünen Scheine zu, das Licht erglüht in fahlem Gold. Geld wird zur Religion, als sie endlich darin baden und ihre Persönlichkeit, ihre Gesichter hinter Dollarnoten verschwinden. Alles, was wir auf der Welt erschaffen, macht sich selbstständig und verändert auch uns wieder, das ist die Botschaft Cherkaouis in dem etwas lang geratenen englischen Text über das Wesen des Geldes, der aus dem Off erklingt. Am Schluss geht der ganze Haufen aus Geld und Menschen in Flammen auf.
Stärker nach innen horcht die Kanadierin Aszure Barton in „human undoing“, ihrem Duo über die Faulheit: Die zwei Nerds in Schlabberkleidung kommen trotz Sich-Wachtrommelns per Body-Percussion kaum vom Boden weg, schieben sich gegenseitig hoch – wir sehen die Antriebslosigkeit nicht nur der Pandemie, sondern des ganz normalen Alltags, die hier in einer verzweifelten Resignation endet. Marcos Morau leitet in Spanien die Avantgarde-Kompanie La Veronal und zeigt in „Hermana“, also „Schwester“, ein Motiv aus seiner Heimat: In züchtige Kleider gehüllt, die Haare um den Kopf geflochten, kommt ein Trupp identisch aussehender Frauen die Treppe durchs Auditorium, flüstert leise Gebete (oder Flüche?) und übt sich, durchweg in schönstem Gleichklang, in angespannten, ja verkrampften Ritualen. Sind sie vereinsamte Schwestern, eine Sekte, eine Dorfgemeinschaft? Unheimlich wie Vampire fletschen sie manchmal die Zähne, ihre selbstgewisse, stolze Schönheit wird zu einem geradezu beängstigenden Hochmut. Morau bleibt hier so mysteriös und bildermächtig wie in seinen Abendfüllern.
„Yesterday’s Scars“ heißt Marco Goeckes Solo zum legendären Song „Heroin“ von The Velvet Underground – Drogensucht ersetzt beim frisch ernannten Träger des Deutschen Tanzpreises die Fresssucht oder Völlerei. Ob deren Sündhaftigkeit überhaupt eine Instanz für den Choreografen ist, das weiß man nicht so recht, denn Interpret Luca Pannacci ringt in seiner kettenbehängten Punkerhose eher mit sich selbst, tanzt zwischen Faszination und Vernichtung. Das ist nicht der eklatante, tieftraurige Goecke, den man aus seinen letzten Stücken beim NDT kennt, sondern ein eher nachdenkliches Stück – und einfach so viel raffinierter, so viel interessanter in seinem Bewegungshandwerk als die mächtigen Bilder-Finder um ihn herum.
Hofesh Shechter, neben Goecke der andere Haus-Choreograf der Truppe, nimmt mit „Luxury Guilt“ nicht die Sünde der Wollust ins Visier, sondern die Sünde ihrer Unterdrückung: In weißen, futuristisch-neutralen Anzügen kämpft eine Gruppe Menschen gegen die Lust, die mit heftigem, betäubenden Rauschen durch ihre Köpfe und Körper wallt; wie meistens komponierte Shechter den Soundtrack selbst. Einzelne erliegen dem Kampf, brechen aus, hinten fällt ein Paar lustvoll übereinander her. Shechter quält den Zuschauer fast mit seiner ungewohnten Langsamkeit (es sieht manchmal aus wie Sharon Eyal in Zeitlupe) – der leise Seufzer der Lust am Schluss wirkt wie eine Befreiung.
Laut wird es bei Sasha Waltz, in einer zerhackten, sich in blitzartigen Bildern immer weiter steigernden Szenenfolge lässt die Tanztheaterikone aus Berlin zwei Menschen aggressiv werden (je nach Besetzung zwei Männer oder zwei Frauen). „Ira“, also „Zorn“ wird quasi zur Publikumsanschreiung, so ohnmächtig brüllen die beiden Tänzer in ihren feinen Anzügen ihre Wut aus sich heraus, attackieren einander, schleudern zum Schluss noch die Lautsprecher wütend um sich. Man leidet mit und unter den Bildern. Das Wummern der immer härteren Beats kennt man eigentlich eher von Sharon Eyal, aber die israelische Choreografin bleibt in „Point“ erstaunlich kammermusikalisch, wenn sie drei Frauen nebeneinander trippeln lässt. In den weißen, mehlwurmartigen Ganzkörpertrikots, die Eyal so liebt, ranken immer zwei von ihnen parallel und beäugen misstrauisch, was die dritte anders macht. Unter der gegenseitigen Beobachtung ziehen sich Schultern verkrampft hoch, Finger schießen plötzlich auf Augen wie Dolche – in ihrer minimalistischen Art zeigt Eyal, wie Neid ganz leise entsteht und vor sich hin glimmt.
Bei all dem großartigen Tanz – und Gauthiers Truppe wirft sich mit Verve in sämtliche Stilarten –, bei all den tollen Choreografennamen stimmt einen so viel Niedertracht, so viel Einsicht in die Abgründe des Menschen wahrlich nicht heiter. Froh kann einen aber die Vielfalt der Stile und Stimmen machen, die Eric Gauthier in so reicher Auswahl nach Stuttgart holt. Rein choreografisch sticht die neue Lust auf homogene Gruppen ins Auge, außerdem wird der Einfluss von Crystal Pite und Marco Goecke deutlich: Die Hände und Arme werden heute wesentlich origineller und interessanter eingesetzt als etwa damals in der Forsythe-Nachfolge, sie flattern und umspielen nach Goecke-Art den Oberkörper oder begleiten, à la Pite, gesprochene Worte mit rhythmisch prägnant gesetzten Gesten. Es ist ein Abend mit starken Bildern.
Angela Reinhardt