181 Schülerinnen und Schüler der Ballettschule des Hamburg Ballett mussten wegen der Covid-19-Pandemie von jetzt auf gleich das Training sowie ihre Prüfungs-vorbereitungen abbrechen. Die pädagogische Leiterin und stellvertretende Direktorin der Ballettschule des Hamburg Ballett, Gigi Hyatt, fand mit ihrem Team einen Weg, um ihre Schülerinnen und Schüler in dieser Zeit zu unterstützen. Der Einsatz digitaler Technologien war dabei eine Herausforderung und ein großer pädagogischer Erfolg zugleich.
Frau Hyatt, wie hat die Corona-Pandemie die Situation an Ihrer Schule verändert?
Gigi Hyatt: Am 13. März hatten wir beschlossen, die Schule zu schließen, weil wir italienische Schülerinnen haben, die aus ihren Frühjahrsferien aus Italien, einem Land mit einem hohen Infektionsgeschehen, in unser Internat vom Ballettzentrum zurückgekehrt waren und deshalb in Quarantäne gehen mussten. Zu diesem Zeitpunkt dachten wir, okay, dann machen wir eben die Schule zwei Wochen zu und dann wird alles wieder normal werden. Wie wir wissen, war das nicht der Fall. Wir mussten unsere Hoffnung immer wieder auf neue Ziele ausrichten und mit unglaublich vielen, fast täglichen Änderungen durch neue Verordnungen klarkommen. Das war eine enorme Stressbelastung für alle. Ende April haben wir die gute Nachricht bekommen, dass wir die Theaterklasse unter bestimmten einzuhaltenden Bedingungen zurückholen konnten. Das haben wir dann gemacht, um sie auf die Prüfungen am 26. Juni vorzubereiten.
Wie haben die Familien reagiert?
Gigi Hyatt: Viele Eltern im Ausland hatten sich Sorgen gemacht, denn die Rückkehr ihrer Kinder in die Heimatländer wurde immer unsicherer. Schülerinnen und Schüler aus Korea und China konnten zu dieser Zeit nicht nach Hause zurückkehren und sind deshalb bei uns geblieben. Wir haben sie hier verpflegt und betreut. Für die anderen haben wir geschaut, was am besten für die Schüler war und was sie und ihre Eltern wollten. So sind viele Schüler nach Australien, Japan, Mexiko und in andere europäische Länder zurückgekehrt. Zum Glück hat unser Förderverein das Geld für die Rückflüge der Schüler übernommen. Dafür sind wir ihm sehr dankbar. Langfristig müssen wir schauen, wie wir die Kinder der Familien, die von großen finanziellen Einbrüchen betroffen sind, am besten unterstützen können.
Wie sind Sie mit Ängsten seitens der Schülerinnen und Schüler umgegangen?
Gigi Hyatt: Wir hatten immer sehr viel Kontakt zueinander. Und wenn jemand noch weitere Fragen hatte, dann haben wir nach dem Training gewartet und miteinander gesprochen. Die Isolation war wirklich für jeden Tänzer, aber auch für jeden Nichttänzer schwierig. Wir haben uns um jeden einzelnen Schüler gekümmert. Wir sind sehr stolz, weil sie das wirklich gut bewältigt haben. Wichtig war es, den Kontakt zu halten, kreativ zu sein und sich auszutauschen. Wir haben versucht, unseren Schülern zu zeigen, dass wir für sie da sind, dass sie immer noch Tänzerinnen und Tänzer sind und dass sie Kontakt zu ihren Mitschülern und Lehrern haben. Das war uns ganz wichtig.
Balletttänzer und Eleven benötigen ein tägliches Training. Wie haben Sie die Zeit bis zum Präsenzunterricht für die Schüler im Ausland überbrückt?
Gigi Hyatt: Wir haben in der Zwischenzeit ein digitales Training über die Video-App Zoom angeboten. Damit konnten wir mehrere Schüler und Lehrer gleichzeitig visuell erreichen und miteinander vernetzen. Das war für uns Lehrer zunächst eine große Herausforderung, weil wir noch nie online unterrichtet haben. So konnten wir alle Klassen täglich in Ballett, Modern Dance und Spitze trainieren und manche auch zweimal am Tag unterrichten.
Was war für Sie dabei die größte Herausforderung?
Gigi Hyatt: Viele unserer ausländischen Schülerinnen und Schüler, die in ihre Heimatländer zurückgeflogen waren, leben in verschiedenen Zeitzonen. Wir Lehrerinnen und Lehrer haben deshalb unterschiedliche Trainingszeiten angeboten. Manche Schüler sind sogar spät in der Nacht in ihrem Heimatland noch einmal aufgestanden, um in ihrem Zimmer an einem Zoom-Training aus Deutschland teilzunehmen. Sie wollten einfach tanzen und trainieren, weil sie es so sehr lieben und mit dem Herzen dabei sind.
Was war Ihre wichtigste Erkenntnis, die Sie aus dieser Zeit bisher gezogen haben?
Gigi Hyatt: Sowohl die Schüler als auch die Lehrer sind an dieser Herausforderung gewachsen und wir alle haben, denke ich, sehr viel aus diesem Training per Video mitgenommen. Die Schüler haben, wenn sie keine Stange hatten, an Bügelbrettern oder Stühlen in kleinen Wohnzimmern, manchmal auf rutschigen Böden, trainiert und waren dabei sehr kreativ. Da wir wegen des Platzmangels keine Übungen in die Breite machen konnten, mussten wir Lehrer zum Basistraining zurückkehren. Dabei haben wir uns auf ein Körperteil konzentriert. Das war sehr interessant, weil wir beim Zoomtraining auf einmal ganz andere Dinge sehr nah wahrgenommen haben. Je nachdem, wo die Kamera eines Schülers oder einer Schülerin stand, sahen wir manchmal nur Füße. Es gab keine Ablenkung durch ein Herumlaufen im Trainingssaal. Wir hatten die Füße sozusagen genau vor Augen und konnten Dinge korrigieren, die wir vielleicht sonst manchmal im alltäglichen Trainingsablauf übersehen.
Haben Sie das Gefühl, dass Schüler und Lehrer für sich neue Möglichkeiten in der Krise entdeckt haben?
Gigi Hyatt: Ja, ich glaube schon. Es gibt eine ganz neue Aktivität im Internet. Es scheint, als ob sich die ganze Tanzwelt zusammengetan hätte und ihre Kreativität jetzt sehr vielseitig über den virtuellen Kanal ausdrückt. Wir haben auch selbst viele Vorstellungen geteilt, die online zu sehen sind. Es gibt Ballett- und Pilateskurse. Wenn man sucht, dann findet man im Internet jetzt sehr viele neue Angebote.
Einige Schülerinnen und Schüler mussten noch vor den Sommerferien ihre Prüfungen ablegen. Wie haben sie das gemacht?
Gigi Hyatt: Die Abschlussschüler durften sich im Ballettzentrum unter sehr strikten Maßnahmen vorbereiten. Wir haben eine Klasse von sieben und eine Klasse von sechs Schülerinnen und Schülern. Jeder brauchte seinen Platz und jeder stand an seinem Stammplatz. Wenn sie ins Gebäude reinkamen, gingen sie durch eine bestimmte Tür und durch eine andere wieder raus. Alles wurde gereinigt, kontrolliert und gut gelüftet. Die Schüler hielten Abstand. In den Klassen konnten wir leider nicht prüfen. Pas de deux ging nicht. Dieser Teil der Prüfung fiel aus, weil es dabei auf den Kontakt ankommt. Das, was wir prüfen konnten, haben wir gemacht.
Und wie sieht es mit zukünftigen Anmeldungen zu Coronazeiten für Ihre Schule aus?
Gigi Hyatt: Zum Glück gab es in diesem Jahr viele Anmeldungen. Wir haben ausnahmsweise das erste Mal ein Vortanzen über Computer und DVD gemacht, sonst tanzen die Schülerinnen und Schüler immer live vor. Aber das war in diesem Fall nicht möglich. Die zum Vortanzen eingeladenen SchülerInnen wurden über Links zu Videos bewertet. So konnte man sie direkt im Training sowie in klassischen und zeitgenössischen Variationen beobachten. Es war ein Experiment.
Corona hat für viele einiges grundlegend verändert. Pläne und Träume sind zerplatzt. Das Leben muss in allen Bereichen ganz neu gedacht werden. Wie sehen Sie die Zukunft für den Tanznachwuchs an Ihrer Schule und den Tanz?
Gigi Hyatt: Ich bin optimistisch. Ich glaube, dass wir als Ballettschule nicht darunter leiden werden. Wir müssen nächstes Jahr noch mehr Arbeit investieren, weil der Lehrplan für dieses Jahr noch nicht in allen Bereichen erfüllt wurde, aber das holen wir nächstes Jahr wieder auf. Wie ich unsere Schülerinnen und Schüler kenne, wird das kein Problem für sie sein. Sie sind so hungrig zu lernen. Ich glaube, wir werden alle mit einer ganz neuen Energie nach den Ferien zurückkommen. Ich hoffe nur, wir können unter besseren Umständen im Ballettsaal trainieren. Das braucht diese Kunst, zumindest wenn es zur Vorstellung kommen soll. Wir werden sehen, ob wir unsere jährliche Schulvorstellung nachholen können. Das müssen wir abwarten.
Wird es im Bereich der Choreografien eine Veränderung geben?
Gigi Hyatt: Bestimmt in der nahen Zukunft. Es gibt schon zahlreiche neue Choreografien. Es muss ein Weg gefunden werden, wie man Vorstellungen für das Publikum, das Orchester und die Tänzerinnen und Tänzer unter Einhaltung des Mindestabstands machen kann. Wir glauben, dass es in dem Bereich viele kreative Choreografien geben wird und auch wir arbeiten daran, denn, wie unser Direktor des Hamburg Ballett, John Neumeier, sagt: “es ist wichtig, die Flamme der Kreativität lebendig zu halten.”
Das Interview führte Viola Gräfenstein
Weitere Infos: https://www.hamburgballett.de/de/ballettschule/index.php