Das Faunische bricht sich Bahn im Mann (Búi Rouch und Matteo Carvone). Fotos Ute Fischbach-Kirchgraber
Kritiken

Der Faun in Zeiten von „Me Too” – Matteo Carvones Fabelwesen geistert im Münchner Gasteig

Was ein Faun am Nachmittag macht, ist seit Mallarmé und Debussy ein vom Publikum lüstern aufgenommener Skandal. Vor allem seit Nijinski vor über 100 Jahren die Zuschauer nachhaltig verstörte mit seiner Choreografie, die alles hinter sich ließ, was die hohe Tanzkunst bis dato ausmachte. Schließlich hatten ihn antiken Darstellungen im Louvre zu unerhört eckigen Bewegungen inspiriert.

Der Faun als Gestalt, die – back to the roots – grauer Vorzeit entsteigt und mit seiner tänzerischen Schwerfälligkeit, seinen Hörnern und seinem Tierfell als Symbol des Dionysischen, Exzesshaften wohlige Schauer auslöst. Zumal er ja die Nymphen, hinter denen er her ist, nicht erwischt und sich nur an einem zurückgelassenen Schleier schadlos halten kann – wenn man Ovid Glauben schenkt, der das urtümlich haarige Fabelwesen immerhin schon gesitteter präsentiert und mit einer Pan-Flöte ausstattet, mit der er seine Sehnsucht in die Welt hinaus klagt.

Der Faun in mystischem Licht (Búi Rouch)Der Faun als Naturwesen also. Und das bleibt er bis heute. Nur dass der Firnis der Zivilisation sehr dünn ist und der Alte sein Unwesen nicht nur auf der Bühne, sondern vor allem im Leben treibt. Man erkennt ihn nicht mehr auf den ersten Blick als solchen. Er lauert nicht mehr in der freien Natur, sondern im Hotel und trägt jetzt einen weißen Bademantel, ist aber in alter Manier gierig hinter jedem weiblichen Wesen her, das nicht schnell genug fliehen kann – und wenn sie nicht willig ist, eben mit Gewalt. Und das nicht nur am Nachmittag, sondern rund um die Uhr.

Steigt aus der Tiefe empor: Der Faun. Bei genauerem Hinsehen sind es jedoch zwei.

Dabei wäre der Faun durchaus kultivierbar und zu einem brauchbaren – weil konsumierenden – Wesen unserer Gesellschaft umzugestalten, die dem Rauschhaften durchaus zugänglich ist in Gestalt des Alkohols. Was wäre, wenn der Faun sich zu einem gesitteten Picknick auf eine Decke in die Wiese setzt, sich ein Glas Rotwein munden lässt und dabei Mallarmé zitiert… Zumindest solange es noch Wiesen und Natur gibt, solange noch Grillen zirpen.

Auch Faune können scheu sein (Matteo Carvone)

Jedenfalls gibt der Faun künstlerisch was her. Gerade für den Tanz. Matteo Carvone, Ex-Tänzer des Gärtnerplatztheaters und Choreograf, hat nun zusammen mit Búi Rouch eine ganz moderne „Faun-tastische” Performance erarbeitet, die den Faun aus dem mystischen Dunkel in unsere Welt katapultiert. Die Black Box im Münchner Gasteig erwies sich dabei als idealer Aufführungsort.

Aus dem Loch in der Wiese erscheint zunächst ein Bauch, dann Schultern und Arme, ehe ein bepelzter Kopf hervorlugt. Schließlich verlässt dieses Wesen auf allen Vieren den Urgrund, läuft erst zögernd, dann immer schneller um das Loch herum, bis sich ein Zweiter dazugesellt. Diese Faune richten sich schließlich auf, recken die Brust wie Tarzan und haben, scheint es, richtigen Männerspaß. Doch die Entwicklung geht voran. Plötzlich ertönt höfische Musik, und die beiden erheben anmutig das gezirkelte Bein, wandeln sich in Menschen, werfen also den Pelz ab. Sie erscheinen nun wie Wladimir und Estragon aus Becketts „Warten auf Godot“. Da setzt sich einer schon mal auf den Rücken das anderen, es geht gesittet zu, bis man zu den Klängen von „My Way“ in Édouard Manets berühmtem Gemälde „Das Frühstück im Grünen“ landet.

Und was macht der Faun jetzt? Er versinkt rücklings voran wieder in seinem Loch, aus dem er jederzeit neu als der tierhaft Wilde auftauchen könnte. „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch”, würde es bei Bert Brecht heißen. Eine atmosphärisch äußerst intensive Vorstellung, der das Publikum gebannt folgt.

Kaum zu verstehen, dass Matteo Carvone sie gegen viele Widrigkeiten verwirklichen musste, denn sein Antrag auf städtische Fördermittel war abgelehnt worden. Obwohl man hätte wissen können, dass er hochkünstlerisch arbeitet. Carvone hat im vergangenen Jahr bereits Liszts „Faust-Sinfonie“ für Orgel in der Gasteig-Philharmonie tänzerisch umgesetzt. Wir sind gespannt auf weitere Projekte.

Ute Fischbach-Kirchgraber