Alle Fotos:Tokyo Ballet "The Kabuki" © Wiener Staatsoper / Ashley Taylor
Kritiken

Das Tokyo Ballet mit Maurice Béjarts „The Kabuki“ in Wien zu Gast

Sagenhafte Verschmelzung von Ballett und Spiritualität aus Fernost:

Zum Ausklang der Jubiläumssaison „150 Jahre Wiener Staatsoper“ war das Tokyo Ballet mit Maurice Béjarts „The Kabuki“ in Wien zu Gast.

 

Es ist die letzte Szene „Rache“, die einen am meisten überwältigt: Unter dem symbolträchtigen Bild der japanischen Flagge begehen der Held und seine 46 Gefolgsleute Selbstmord. Auf Knien, ganz in weiß gekleidet. Der Farbe von Reinheit und Aufrichtigkeit. Dabei schreitet Yuranosuke noch kurz zuvor die stramme Diagonale seiner furchtlosen Mitstreiter ab – siegreich den Skalp seines Widersachers in die Höhe haltend.

Über Jahrhunderte prägten die Samurai die Geschichte Japans, nicht nur als Krieger, sondern auch als politische Elite. Ihr Mythos erzählt von Tapferkeit und Disziplin, von Loyalität und nobler Selbstaufopferung – aber auch von Verrat, Intrigen und erbarmungsloser Gewalt. Doch Gefühlswelten wie jene der 47 Samurai – festgehalten im Puppentheaterspiel „Kanadehon Chushingura“ und traditionellen Kabuki-Theater – befremden Europäer. Zugleich entfalten sie aber auch exotische Faszination. Und das umso stärker, je mehr man über die kulturellen Hintergründe der spannungsvollen Zeit des japanischen Rittertums weiß.

Passenderweise wurde in München gerade eine Ausstellung mit prachtvollen Samurai-Rüstungen, Helmen, Masken und Waffen aus der Sammlung des Ehepaares Ann und Gabriel Barbier-Mueller gezeigt. Perfekte Einstimmung zum Wien-Gastspiel des Tokyo Ballet anlässlich der Gründung der Wiener Staatsoper vor 150 Jahren sowie dem Beginn diplomatischer Beziehungen zwischen Österreich und Japan im Jahr 1869.

Sinnbildhaft für den kulturellen Austausch beider Ländern stand „The Kabuki“ auf dem Programm. Ein Ausnahmewerk, restlos ausverkauft an drei Abenden. Trotz herausragender Besetzung der vielen unterschiedlichen, handlungstragenden Figuren verließen einige Zuschauer die Vorstellung in der Pause. Was sie verpassten, war sensationell. Denn erst im zweiten Teil der sich langsam wie ein Krimi mit episodenhaften Einschüben in Prolog und neun Szenen steigernden Handlung entwickelt die ganz in japanische Ästhetik, Eleganz und Farbenpracht getauchte Choreografie unwiderstehliche Sogkraft.

Dan Tsukamoto als Yuranosuke © Wiener Staatsoper, Ashley Taylor

Plötzlich reduziert auf ein riesiges Männerensemble in schwarz/weiß (Ausstattung: Nuno Côrte-Real) explodiert sie schier in expressiver Formationsklarheit. Weite Kimonos, Requisiten, Zwischenvorhänge und Papierwände verschwinden. Fernab grazil trippelnder weiblicher Ablenkung vereinnahmt eine martialische Demonstration archaischer Kampfkräfte die Bühne. Getrieben von dem Entschluss, die Ehre des Fürsten Enya Hangan (Yasuomi Akimoto) wiederherzustellen. Dieser hatte sich zu Beginn das Leben nehmen müssen, weil er sein Schwert in Wut gegen den Frauenverführer Morono (Mao Morikawa) gezogen hatte.

Grund für das Debakel ist Kaoyo Gozen, Enya Hangans Gattin. Wunderbar in ihrer charismatischen Anmut und Trauer getanzt von Mizuka Ueno. Die Rolle des jungen Mannes, den schwarzverhüllte Geister im reizüberfluteten Tokio der Gegenwart ein uraltes Schwert als Portal für eine Zeitreise ohne Wiederkehr finden lassen, interpretierte am 4. Juli Dan Tsukamoto. Ihm gelang die Verwandlung vom neugierigen Beobachter zum pflichtergebenen Samurai unaufgeregt stilsauber. Jede seiner Balancen und Gesten, die Sprünge und das schicksalhafte Zusammentreffen mit Kaoyo saßen. Dabei musste er sich in langen solistischen Monolog-Passagen ebenso beweisen, wie vor den Kämpfern, die er im Verlauf verworrener Erzählstränge zu seinen Verbündeten macht.

Tsukamoto hat die Facetten dieser großen Partie absolut verinnerlicht. Obwohl nahezu ständig auf der Bühne präsent, vermag er am Ende noch einmal mit resoluter Technik und Ausdauer aufzutrumpfen. So gerät das unerwartete Finale, das im kollektiven Seppuku-Ritual von 47 Ronins gipfelt, noch spektakulärer. Für einen magischen Moment herrscht Stille im Saal. Dann brandet den Tänzern tosender Applaus entgegen.

Erstaunlich, dass mit Maurice Béjart ein französischer Choreograf das krude Nationalepos „Die Rache der Ronin“ für die Ballettbühne adaptierte. 33 Jahre ist das her. Von seiner Dramatik und Originalität hat das 1986 eigens zu einer Klangwelt von Toshiro Mayuzumi kreierte Meisterwerk bis heute nichts eingebüßt. Im Gegenteil. Es avancierte zum Signaturstück des Tokyo Ballet – unverwechselbar in seiner historisierend-stilisierten Machart, der außergewöhnlichen Ausstrahlung seiner Protagonisten sowie der Verknüpfung filmmusikartiger Sinfonik mit Kabuki-Gesang und live auf den Boden geschlagenen Hölzern.

Béjart war Kosmopolit. In „The Kabuki“ schwingt sein enges Verhältnis zur Kultur Japans sowie die große Sympathie für das Land mit. Elemente des Nõ-Theaters, Kabuki und Bunraku wurden zu Inspirationsquellen. Sie bestimmen den Fluss des Tanzdramas „The Kabuki“, dessen Erfolg die Beziehung zwischen dem Choreografen und dem Tokyo Ballet noch fester zurrten.

Vesna Mlakar