Dieses Stück explodiert auf die Bühne – gerade plaudert man noch mit dem Sitznachbarn, und plötzlich stehen mit einem Schlag acht Tänzer im Licht, ohrenbetäubende Rhythmen wummern durchs Stuttgarter Theaterhaus. „Rhythm is a dancer“ hätte Hofesh Shechter, seit 2021 Hauschoreograf bei Gauthier Dance, sein turbulentes, bewegungsintensives Stück auch nennen können, denn das Pulsieren der von ihm selbst komponierten Musik treibt eine Stunde lang die Tänzer über die Bühne: ekstatisch wie in einem Rave, mit Anmach-Posen wie in der Disco oder plötzlich vereinsamt in einer dunklen Ecke des Clubs.
Der neue Abend heißt aber „Contemporary Dance 2.0“, er zeigt sozusagen zeitgenössischen Tanz in der zweiten, verbesserten Version – und bei aller Ironie, die beim Shechter immer ein wenig mitschwingt, könnte er da durchaus recht haben. Wie anders sollte eine junge Generation zwischen selbstgewisser Ambition und Weltuntergangsstimmung tanzen als genau so, mit hinausgestoßenen Ellenbogen und einsamen, düsteren Momenten im Dunst der Großstadt? Shechters Überwältigungstanz spricht definitiv neue Zuschauer an, weil er zur Musik eines Publikums tanzt, das normalerweise nicht ins Ballett geht.
Fotos: © Jeanette Bak
Kreiert hatte der Londoner Choreograf das Stück ursprünglich 2019 für die GöteborgOperans Danskompani, Gauthier Dance übernimmt eine auf acht Tänzer verkleinerte Version der Londoner Jugendkompanie Shechter II. Es geht ums Clubbing, also das Austoben im Nachtclub, die wilde Euphorie, das Sich-in-die-Musik-Fallenlassen. Auf lakonischen Pappschildern werden fünf Teile angesagt, aber in „Pop“, „Mit Gefühl“, „Mutter“, „Zeitgenössischer Tanz“ und „Das Ende“ steckt nicht unbedingt das drin, was draufsteht. Nach dem Elektropop- oder Heavy-Metal-Wummern erklingt sanft beschwichtigend Bachs Air aus der Suite Nr. 3 in D-Dur und ganz zum Schluss, durchaus satirisch, der Oldie „My Way“ von Frank Sinatra. Shechter zeigt eine Gruppe, die fast wie der Hippie-Stamm aus dem Musical „Hair“ meist eng zusammen tanzt, in einem rituellen und gleichzeitig organisch wogenden Gleichklang. Die angedeuteten Motive aus dem israelischen oder arabischen Tanz deuten ebenfalls eine Verbundenheit untereinander an, die manchmal fast zum Kult wird, ob der einem einzelnen Star gilt oder in den nach oben züngelnden Händen einem unbekannten Gott. Aus Israel kommt auch das breitbeinige Auf-der-Erde-Stehen, der feste Bodenkontakt. Gleichzeitig aber illustrieren Flirt- und Anmachposen, Bodypercussion, mechanische Freeze-Positionen aus dem Hip-Hop oder einfach ein wildes Gliederwerfen die Coolness der jungen Club-Gänger. Immer wieder vereinigt sich die Gruppe zu einer geordneten, gestaffelten, manchmal fast blütenartigen Formation, die homogen und geschmeidig über die Bühne driftet. Es gibt meditative Momente, manchmal scheint gar improvisiert zu werden, mitunter nimmt man auf der Bühne auch das Publikum zur Kenntnis, lässt sich bewundern.
Getanzt wird in Ausgehschick und Freizeitschmuddel, in einem ständigen Dunst oder Rauch, den die tolle Lichtregie von Tom Visser zu einem wesentlichen Element der explosiven Wirkung macht. Natürlich ist das Stück ein gefundenes Fressen für die großartigen Tänzer von Gauthier Dance, vier Männer und Frauen, die vom Choreografen auf erfrischende Weise völlig gleich behandelt werden. Shechter arrangiert auch noch das Verbeugen zu den Standing Ovations, samt Zeitlupe und Rührung der Beklatschten, was teils komisch und teils echt aussieht. Vielleicht liegt in dieser Verunsicherung zwischen Emotionalität, Selbstgefälligkeit und feiner Satire das Geheimnis des Stücks. Der Gast aus London hat einen eigenen, gar nicht so einfach zu entziffernden Stil, er ist intelligent, manchmal makaber, und so nah dran an der jungen Generation wie kaum ein Choreograf. Mit ihm hat Gauthier Dance in der innerstädtischen Konkurrenz gegen das Stuttgarter Ballett definitiv die Nase vorn. Vielleicht wird deshalb auch Akram Khan, der nächste Knüller aus London, im Theaterhaus andocken statt im Opernhaus, wo Ballettchef Tamas Detrich unbedingt eine Weltpremiere von ihm haben wollte; diese Neuigkeit war aus Eric Gauthiers sozialen Medien herauszulesen.
Angela Reinhardt