Joachim A. Langs „Cranko“ als filmische Hommage
von Volkmar DRAEGER
Es gehe nicht um Schritte, sagt John Cranko: Tanz kommt nicht vom Kopf, sondern vom Herzen. Vielleicht ist dies das Geheimnis des großen Jahrhundert-Choreografen in dem kleinen Stuttgart. Vor über 50 Jahren, 1973, starb er überraschend im Flieger nach einem triumphalen USA-Gastspiel. Ein halbes Dezennium später hat ihm Regisseur Joachim A. Lang ein cineastisches Epitaph errichtet. Keine lediglich abgefilmten Exzerpte seiner bis heute gespielten Meisterwerke, auch keinen reinen Spielfilm. Vielmehr bietet Lang beides: höchsten Ballettgenuss und tiefe Einblicke in Crankos zerrissene, von Selbstzweifeln und Einsamsein geplagte Persönlichkeit. Wer den genialischen Choreografen selbst nicht erlebt hat, also wir fast alle, ist angewiesen auf das, was seine engsten Mitstreiter in Büchern und Interviews zu Protokoll gegeben haben. Bleibt Langs Annährung an einen Menschen, den sein steter Erfolg nicht glücklich machen und vom Außenseitergefühl befreien konnte.
Wesentliche Lebensetappen beleuchtet der Film, von der Ankunft als Gast in Stuttgart, dem Bleibe-Angebot eines weitsichtigen Intendanten über die nicht konfliktfreie Formung einer Weltklasse-Kompanie und ihren internationalen Aufstieg bis zur verzweifelt vergeblichen Suche nach einem privaten Partner. Reminiszenzen an die Kindheit in Südafrika blitzen auf. Der erwachsene Cranko raucht, trinkt, unternimmt Suizidversuche, kreiert wie besessen und arbeitet in seinen Balletten ureigene Sehnsüchte, Hoffnungen und Niederlagen auf. Zumindest schaut sich das im Film ausgesprochen schlüssig an. Beraten wurde der Regisseur dabei von jenen, die Cranko besonders nahstanden, sein Sekretär Dieter Gräfe, Tänzer wie Primaballerina Marcia Haydée, Reid Anderson und Egon Madsen, Ausstatter Jürgen Rose und sicherlich manch Anderer. Oft betörend schöne Bilder sind es, die Joachim A. Lang entwirft und in denen er zwei Ebenen verflicht: das jeweils reale Geschehen und Crankos daraus erwachsende tänzerische Visionen, die sich dann zu konkreten Choreografien verdichten. Wie mühsam, konzentriert und emotionsgeballt das im Probensaal geschieht, hieran lässt uns der Film ausgiebig teilhaben. Gegen Ende mischen sich seiner edlen Farbgebung sogar schwarzweiße Originalaufnahmen mit Cranko & Co. bei, was die Authentizität steigert.
Dass Cranko als kunstsinniger Ästhet hochgebildet und äußerst feinnervig war, aber ebenso verletzend sein konnte, auch dies spart das Biopic nicht aus. Es steht und fällt mit der Besetzung der Titelfigur – und da ist dem Regisseur ein kapitaler “Fisch“ ins Netz gegangen. Der britische Schauspieler Sam Riley, mit knapp Mitte 40 selbst im späten Cranko-Alter, lebt in Berlin und bringt außer der Muttersprache auch das Deutsch mit Akzent ein, wie ihn Cranko sicher ebenso hatte. Zunehmend fühlt er sich in die Facetten und Abgründe der knifflig explosiven Figur ein und wird nun noch eine Weile damit leben müssen, als John Cranko erinnert zu werden – kein geringes Lob! Ihm zur Seite spielen intensiv und freilich tanzen die aktuellen Stars des Stuttgarter Balletts: etwa Elisa Badenes als Marcia Haydée, Friedemann Vogel als Heinz Clauss, Jason Reilly als Ray Barra, Rocio Aleman als Birgit Keil. Wenn sie in der Schlussszene gemeinsam mit ihren noch lebenden Vorbildern Rosen an Crankos Stuttgarter Grab niederlegen, hat ein tief berührendes, brillant besetztes Zwei-Stunden-Seelenpanorama seinen emotionalen Höhepunkt erreicht. Unbedingt ansehen!