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15 Years Alive: Gauthier Dance feiert im Stuttgarter Theaterhaus

In New York machen sie ein großes, glitzerndes Gesellschaftsereignis aus solchen Galaabenden, lassen die Prominenz auf dem roten Teppich posieren – im Stuttgarter Theaterhaus blieb alles sympathisch familiär, obwohl die Reihen dicht besetzt waren mit Top-Prominenz aus Politik, Kunst und Wirtschaft. Zum 15-jährigen Jubiläum von Gauthier Dance war nicht nur der gesamte Tanzadel Stuttgarts erschienen, sondern auch viele internationale Gäste. Eine halbe Stunde lang wurde zunächst geredet, gelobt und sich gegenseitig gedankt. „Stuttgart braucht keine zweite Tanzkompanie“, hätte man ihm damals vor 15 Jahren im Rathaus beschieden, erzählte mit sichtlichem Genuss ein stolzer Eric Gauthier.

Begonnen hat er 2007 in einem kleinen, verratzten Ballettsaal mit sechs Tänzern, 2008 fand die erste Premiere „Six Pack“ statt. Heute zählt die Truppe 16 Interpreten plus eine kleine Juniorenkompanie, Gauthier Dance tourt durch die ganze Welt und gilt als „das deutsche NDT“, als Gegenstück zum renommierten Nederlands Dans Theater. Was der kanadische Tänzer und Choreograf im Theaterhaus aufgebaut hat, macht Stuttgart mit seinen zwei Tanzkompanien und dem fachkundigen Publikum tatsächlich zum deutschen Brennpunkt des modernen Balletts, wo in den letzten Jahren mehr Uraufführungen wichtiger Choreografen stattfanden als in jeder anderen deutschen Stadt; die nächsten Berühmtheiten sind bei Gauthier schon gebucht. Mit dem Abend „15 Years Alive“ blickt Gauthier nun zurück, zeigt seine intensiven, persönlichkeitsstarken Tänzer in Werken aus dem Repertoire der Kompanie, sowohl in ein paar der lustigen, Gala-tauglichen „Party Pieces“, wie Gauthier sie nennt, wie auch in Klassikern der Moderne. In „Minus 16“ etwa, dem so passend-unpassend zusammengestellten Patchwork-Stück von Ohad Naharin, das erneut mit Urwucht auf die Bühne knallt. Zu einem Pessach-Lied im wummernden E-Gitarren-Sound erinnert die grandiose Stuhlkreis-Szene an den Holocaust, wenn alle Kleidung auf einen Haufen geworfen wird – und doch feiert das Stück zum Schluss das Leben.

Fotos © Jeannette Bak 

„Minus 16“, Ch. Ohad Naharin
„Ayda“, Ch. Dunja Jocic
„PACOPEPEPLUTO“, Ch. Alejandro Cerrudo

Die einzige, kurze Uraufführung des Abends stammt von der serbischen Choreografin Dunja Jocić, die derzeit in Holland Furore macht. Sie lässt die vier Tänzer der Gauthier Juniors in coolen Leder-Outfits unheimlichen Ritualen folgen, stockend und doch unbeirrbar, immer wieder bricht eine(r) aus oder sogar zusammen. Das Stück lebt weniger von den Bewegungen als von einer dichten, beängstigenden Atmosphäre. Mauro Bigonzetti ist ein langjähriger Wegbegleiter der Kompanie, sein Frühwerk „Pression“ fügt zwei völlig unterschiedliche Teile zusammen: ein Körperknäuel aus zwei Männern, die sich am Boden zu kafkaesken Tieren formen, und ein erhaben gleitendes Frauenduo auf Spitzenschuhen, das sich auf ganz andere Weise als die Männer ineinander spiegelt, elegant statt grotesk. Erst zum Schluss verhaken sich Männer und Frauen ineinander, selbst das auf die kompliziertest-mögliche Weise. Tanz als pure Freude am Leben zeigt Alejandro Cerrudo, einst im Stuttgarter Ballett und nach einer langen Karriere in den USA inzwischen Ballettdirektor in Charlotte in North Carolina. Er lässt in „Pacopepepluto“ drei (fast) nackte Jungs zu Dean-Martin-Songs über die Bühne wirbeln – es ist genau das, was Eric Gauthier als „the sunny side of modern dance“ bezeichnet, und solche entspannte Nettigkeiten machen zwischen all den verrätselten, düsteren Werken einfach Spaß.

„The Sofa“ Ch. Itzik Galili
Shori Yamamoto in „ABC“, Ch. Eric Gauthier
„Pression“, Ch. Mauro Bigonzetti

 

Itzik Galilis früher #MeToo-Beitrag „The Sofa“, ein echter Brüller in jedem Programm, wurde im Theaterhaus schon deutlich nuancierter getanzt – wo Mark Sampson und Gaetano Signorelli übertreiben, zeigt Garazi Perez Oloriz als genervte Amazone wenig Humor. Eric Gauthiers „ABC“ ist was für denkschnelle Ballett-Insider, so rasant zischen die alphabetischen Anweisungen des Choreografen an den Solisten Shori Yamamoto vorbei: Alles, was so im Tänzerleben vorkommt, von fein hinziselierten Entrechats über Rückenweh, von Bournonville-Zitaten bis zu Pina Bauschs Zigarette, von wilden Emotionen bis zu einer schlecht gelaunten Zweitbesetzung, gekrönt am Ende von gleich vier virtuosen Klassiker-Variationen am Stück. Ob Gauthier je über eine ähnlich raffinierte Hommage an die modernen Zeitgenossen nachgedacht hat?

Hauschoreograf Hofesh Shechter lässt seinen etwas makabren Kurzfilm „Return“ im Leichenschauhaus spielen und zeigt darin die große Liebe, mit der sich die Zurückgebliebenen an einen Menschen erinnern; mysteriös und wunderschön spielt Louiza Avraam die Leiche. Eine Erwähnung des anderen Hauschoreografen Marco Goecke, dessen Abendfüller „Nijinski“ die Kompanie immerhin ihren internationalen Durchbruch verdankt, hätte nach dessen Hannoverschem Fehltritt die Feierlaune wohl gestört, also wurde er totgeschwiegen und sein Kurzfilm „Rats“ gestrichen. Dafür lobte der Stuttgarter Fußballstar Jürgen Klinsmann per Einspieler den unermüdlichen Einsatz Gauthiers in den Stuttgarter Schulen, wo er auf Schulhöfen und in Turnhallen die Kinder nach drei Jahren Pandemie wieder in Bewegung bringt. Zum Schluss schwofte plötzlich Marcia Haydée auf der Bühne mit – bei „Minus 16“ holen die Tänzer sich Partner aus dem Publikum, die 85-jährige Stuttgarter Legende bewies unstillbare Tanzlust und schwenkte lachend die Hüften. Dann hoffen wir mal, dass Eric Gauthier weitere 15 Jahre mit den knappen Geldern von Stadt, Land und Sponsoren auskommt, anstatt eines der vielen verlockenden Angebote zur Leitung einer Kompanie anzunehmen, die ihm aus ganz Deutschland immer wieder gemacht werden.

Angela Reinhardt